Abitur

1923

Die pädagogische Praxis

GA 306 (4. Auflage 1989), 7. Vortrag, Dornach, 21. April 1923, Seite 143 – 146

„[…] Ja, da kommt man dann in furchtbare Schwierigkeiten hinein. Man kann annähernd ein neunjähriges Kind so herausstaffieren, neben dem, was man vernünftigerweise machen muß, daß es in die 4. Volksschulklasse übertreten kann; auch bei einem zwölfjährigen Kinde, das in die 7. Volksschulklasse übertreten soll, geht es noch. Furchtbar schwierig wird es schon, zu erreichen, daß die Kinder ins Gymnasium und in die Realschule übertreten können nach absolvierter Volksschule; aber ganz besonders schwierig wird die Sache, wenn es in die höheren Schulklassen hinaufgeht. Denn da fordert Menschenerkenntnis, daß man ein wenig zu dem Ideal der Griechen zurückkehren kann. Ein weiser Grieche mußte zwar von einem Ägypter hören: Ihr Griechen seid ja alle wie die Kinder; ihr wißt nichts von all den Verwandlungen, die auf der Erde vorgegangen sind. – Das mußte ein weiser Grieche von einem weisen Ägypter hören; aber dennoch waren die Griechen nicht so kindlich geworden, von dem heranwachsenden Menschen, wenn er ein richtiger Gebildeter in einem bestimmten Fache werden sollte, die ägyptische Sprache zu verlangen. Sie begnügten sich mit der griechischen Sprache. Wir machen das, was die Griechen getan haben, ihnen nicht nach, wir lernen Griechisch. Nun will ich nichts dagegen sagen; das Griechischlernen ist etwas Schönes – aber es folgt halt nicht aus dem Menschenwesen in einem bestimmten Lebensalter, wo man nun soundso viele Stunden für Griechisch ansetzen soll und das Griechischlernen in die Zeit hineinfällt, in der eigentlich Weberei, Spinnerei und Kenntnis der Papierfabrikation getrieben werden müßte. Ja, nun soll man den Lehrplan festsetzen. Man soll nun aber auch das erreichen, daß die Schüler – weil man ja ganz gewiß uns eine Hochschulbildung nirgends zugestehen wird – in die Hochschulen, die technischen Lehranstalten und dergleichen übertreten oder, mit anderen Worten, daß sie ein Abiturientenexamen bestehen. Da kommen dann die furchtbaren Schwierigkeiten, die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten. Da erlebt man es halt, daß man auf der einen Seite versucht,aus echter Menschenerkenntnis heraus die praktische Betätigung zu pflegen – da kommt dann der Lehrer für Griechisch und sagt: Ich habe zu wenig Stunden; ich kann die Schüler nicht zum Abiturientenexamen führen; ich habe zu wenig Stunden, es geht nicht! – So daß Sie aus dieser ganz sachlichen Erwägung heraus sehen, welche Schwierigkeiten heute noch der Sache gegenüberstehen und wie irgendein fanatisches Bestehen auf einem Ideal nicht platzgreifen kann. Das, was zu geschehen hat, hangt gar nicht einmal heute allein ab von dem, daß, sagen wir, eine Lehrerschaft einsieht: das ist so gut, das ist so richtig -, sondern es müssen viel weitere Kreise des Lebens die Ideale einer wirklich menschengemäßen Erziehung, eines menschengemäßen Unterrichts einsehen, damit auch das Leben so wird, daß man nicht die heranwachsenden Menschen dem Leben entfremdet, wenn man sie naturgemäß erzieht. Denn natürlich macht man heute einen Menschen lebensfremd, wenn er die Gymnasial- oder Realschulbildung bei einem absolviert und dann bei einem Abiturientenexamen, das er draußen machen muß, durchfällt. Mit dem Durchfallen, nun – ich spreche ja zu Sachkennern -, mit dem Durchfallen ist es halt doch so, daß es mir möglich wäre, einen Professor Ordinarius der Botanik, der sogar ein ganz beschlagener Kopf in der Botanik ist, an einer Hochschule in seinem Fach – wenn ich es gerade darauf anlege – durch ein Examen durchfallen zu lassen. Ich glaube schon, daß dies durchaus gehen würde! Nicht wahr, bei einem Examen kann man natürlich immer durchfallen. Auch da stellen sich ja die merkwürdigsten Dinge im Leben heraus. Sehen Sie, es gibt einen österreichisch-deutschen Dichter, Robert Hamerling. Der hat so ziemlich den besten deutschen Stil, den man sich in Österreich aneignen konnte, später als Dichter gehabt. Es ist interessant, Hamerlings Gymnasiallehramts-Befähigungszeugnis durchzusehen. Griechisch: ausgezeichnet. Lateinisch: ausgezeichnet. Deutsche Sprache und deutscher Aufsatz: kaum fähig, in den unteren Klassen der Mittelschule zu lehren. Das steht in Hamerlings Lehramtszeugnis! Also nicht wahr, mit dem Durchfallen und Durchkommen beim Examen ist das so eine Sache.
Nun, da treten dann also die Schwierigkeiten auf, die einen darauf aufmerksam machen, daß weiteste Kreise erst das Leben selber so gestalten müssen, daß es möglich werde, mehr zu erreichen, als was durch den Kompromiß erreicht werden kann, den ich charakterisiert habe. Also wenn ich Ihnen etwa sagen wollte so ganz in abstracto: Kann nun die Waldorf schule überall eingeführt werden?, so kann ich natürlich abstrakt wiederum sagen: Ja, überall, wo man sie hereinläßt. Aber auf der anderen Seite ist selbst das abstrakte Hereingelassenwerden noch nicht ganz das Maßgebende. Denn, wie gesagt, das sind ja nur zwei Ausdrücke für ein und dieselbe Sache bei vielen Menschen. Manche, nicht wahr, schlagen sich durch und werden berühmte Dichter, selbst mit einem schlechten Zeugnis aus der Unterrichtssprache. Aber nicht jeder schlägt sich durch. Für viele bedeutet beim Abiturientenexamen durchfallen aus dem Leben herausgeworfen werden! Und so muß man sagen: In je höhere Schulklassen man hineinkommt, desto mehr tritt das auf, daß der Unterricht, den man da geben muß, dem Ideal nicht vollständig entspricht. Gerade das darf man nicht aus den Augen verlieren. Und das ist etwas, was nun eben zeigt, wie sehr man für diese Dinge mit dem Leben rechnen muß.
Für einen naturgemäßen Unterricht und für eine naturgemäße Erziehung kann natürlich immer nur die Frage sein: Erreicht der Mensch denjenigen sozialen Anschluß im Leben, der durch die Menschennatur selbst gefordert wird? – Denn zuletzt sind das ja auch Menschen, die das Abiturientenexamen fordern, wenn auch das Fordern in dem Stile, wie es heute eintritt, eben ein Irrtum ist. Aber man ist eben dann genötigt, nicht das ganz Richtige zu machen, wenn man im Sinne dieser heutigen sozialen Forderungen nun gerade die Waldorfschul-Pädagogik einführen will. Daher wird natürlich jemand, der die obersten Klassen inspiziert, sich sagen müssen: Ja, da ist ja gar nicht alles so, wie es von der idealen Waldorfschul-Pädagogik gefordert wird! – Aber ich kann Ihnen die Garantie dafür geben: Wenn das, was heute der Menschennatur abgelesen wird – namentlich wenn der Übergang in die praktischen Lebenszweige gefunden werden soll – durchgeführt würde, dann würden beim heutigen Abiturientenexamen alle durchfallen. So schroff stehen sich heute die Dinge gegenüber! Das muß eben durchaus berücksichtigt werden. Es kann ja solchen Dingen in der mannigfaltigsten Weise natürlich Rechnung getragen werden, aber auf der anderen Seite muß daraus das Bewußtsein entspringen, wie sehr nicht nur auf dem Felde der Schule, sondern auch auf dem allgemeinen Lebensfelde gearbeitet werden muß, wenn dasjenige, was gerade in sozialer Beziehung ein menschengemäßer Unterricht und eine menschengemäße Erziehung ist, herbeigeführt werden soll. Dennoch wird bis zu einem gewissen Grade die praktische Betätigung in der angedeuteten Weise gerade in unserem Erziehungswesen berücksichtigt. Nur fallen natürlich immer Stunden für das Praktische weg, weil der Griechisch- und Lateinlehrer diese Stunden beansprucht. Aber das geht schon einmal nicht anders.
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